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So lebt man als Schamane

Mit der politischen Wende, dem Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991, ist auch der Schamanismus Russlands in eine neue Phase getreten. Dessen Ausübung ist jetzt grundsätzlich frei wie die jeder anderen Religion (in Russland wird Schamanismus in der Regel den Religionen zugerechnet). Als Schwerpunkt gilt nach wie vor Sibirien (Hauptgebiete Tuwa, Burjatien, Jakutien, Chakassien und der Altai). Kolchosen (Kollektivwirtschaften) und Sowchosen (staatseigene Betriebe) gibt es nicht mehr.

Zum Bedauern der Schamanen und Schamaninnen wird Schamanismus von keiner übergeordneten (internationalen) Organisation oder Religionsgemeinschaft unterstützt. Die russisch-orthodoxe Kirche kann, wie an ihren prunkvollen Bauten (viele Kirchen wurden neu errichtet) erkennbar, mit großzügiger staatlicher Hilfe rechnen. Der heuer neu gewählte alte Präsident Wladimir Putin lässt keine Gelegenheit vorübergehen, sein Füllhorn über das dominierende Moskauer Patriarchat auszugießen und sich damit dessen Unterstützung zu sichern. Auch buddhistische Tempel und Gruppen in ganz Russland können mit Hilfe rechnen.

Neuer Alltag von Tuwas Schamanen und Schamaninnen

Für Tuwas Schamanen passiert nichts dergleichen — aus dem einfachen Grund, dass es keine weltweite schamanische Kirche gibt. Jeder Schamane und jede Schamanin muss selbst sehen, wo sie bleiben — auf diese Kurzformel lässt sich die „neue Freiheit“ reduzieren. Salopp ausgedrückt können sie froh sein, nicht mehr verfolgt und eingesperrt zu werden oder vom Entzug der bürgerlichen Ehrenrechte und dem Verlust ihres Vermögens bedroht zu sein, aber mit besonderer Unterstützung ist nicht zu rechnen.

Sie haben im Wesentlichen drei Möglichkeiten:

  1. Sie organisieren sich als Mitglied einer Art Zunft, arbeiten hauptberuflich als Schamane oder Schamanin und erhalten damit Rechte, gehen aber auch Verpflichtungen ein.
  2. Sie arbeiten selbstständig und ausschließlich als Schamanen oder Schamaninnen.
  3. Sie arbeiten unselbstständig (haben also einen Brotberuf) und schamanisieren nebenbei.

Die größte und am besten beschreibbare Gruppe ist nunmehr die erste). Die meisten Schamanen und Schamaninnen Tuwas sind in mehreren Gesellschaften organisiert, die älteste und größte ist „Düngür“ („Trommel“). Sie wurde vom Schamanismusforscher Prof. Mongusch Borachowitsch Kenin-Lopsan im Jahre 1991 gegründet — ein in die Zukunft weisender Schritt. Kenin-Lopsans Angaben zufolge waren im April 2012 in Tuwa 1.400 Schamanen und Schamaninnen registriert, von ihnen 400 in „Düngür“ (siehe unsere Literaturempfehlungen für von Prof. Kenin-Lopsan aufgezeichnete, schamanische Geschichten und Gesänge aus Tuwa).

Angehörige der zweiten und dritten Gruppen repräsentieren die sozusagen „klassische“ Situation Tuwas. Neben ihrer alltäglichen Tätigkeit als Hirten, Viehzüchter, Schmiede, Land- oder Fabrikarbeiter stellten sie schamanische Fähigkeiten in den Dienst ihrer Familien oder Sippen — typisch „Nebenberufliche“.

Vereinzelt gab es hauptberufliche Schamanen oder Schamaninnen, die weithin bekannt waren und regelmäßig reisten, also „eingeladen“ wurden — die tuwinische Sprache hat einen eigenen Ausdruck hiefür: Chogdurgan cham. Sie großzügig zu honorieren war selbstverständlich, und es mag schon vorgekommen sein, dass es gut situierte Schamanen gab. Die Voraussetzung für Wohlhabenheit war jedoch eher die Fähigkeit, Erworbenes zusammenzuhalten, und diese Kunst scheinen nur wenige beherrscht zu haben. Jedenfalls sind genügend Lieder von Schamanen erhalten, die ihre eigene Armut oder die Knausrigkeit ihrer Auftraggeber beklagen.

Schamanismus in der Stadt

In der 150.000-Einwohner-Stadt Kysyl leben „einige“ der zweiten und „mehrere“ der dritten Gruppe, genaue Zahlen fehlen. Es sind Arbeiter:innen, Angestellte, Lehrer:innen, Handwerker:innen und Vertreter anderer Berufe unter ihnen. Nicht alle nennen sich Schamane oder Schamanin. Bekannt in Kysyl ist ein Ingenieur, der als Seher und als vorzüglicher Heiler gilt – aber Schamane ist er eigenen Angaben zufolge nicht. Anderseits ist eine Lehrerin am Polytechnischen Institut bekannt: Sie besitzt eine Trommel und ein Schamanenkostüm, schamanisiert nach Bedarf und legt Wert darauf, als Schamanin zu gelten. Schwierigkeiten mit ihrem Dienstgeber gibt es nicht.

Die schamanischen Gesellschaften (rechtlich handelt es sich um Vereine) prägen den Wandel in der Struktur des Schamamentums in Tuwa am deutlichsten. Sie wären zu Zeiten der ehemaligen Sowjetunion undenkbar gewesen. Ein zusätzlicher Impuls ging zweifellos 1993 von der amerikanisch-österreichischen FSS-Expedition unter Leitung des finnischen Ethnologen Heimo Lappalainen aus: Hier erlebten Tuwas Schamanen und Schamaninnen hautnah, wie effizient Zusammenarbeit in Gruppen sein kann, zumal es vordem geradezu sprichwörtlich hieß: „Ein Schamane ist Kraft, zwei Schamanen sind Streit.“

Jedes Mitglied zahlt von seinem Einkommen (im Durchschnitt 15.000 Rubel, 360 €; Anm.: Alle Zahlen in diesem Artikel stammen aus dem Jahr 2011) im Monat 3500 Rubel (83 €) an Düngür, davon werden die laufenden Kosten für das Haus (im Eigentum des Vereins) in der Rabotschaja 245 in Kysyl bestritten, dazu Heizung (Kohle), Strom, Holz, Pensionsbeiträge und die Löhne für das Personal. Dieses besteht aus einem Obmann (neu gewählt wurde 2011 Ak-ool Dorschu Monguschewitsch), einem Sekretär und einem Hauswart, der Reparaturen erledigt und Sicherheitsaufgaben hat. Das ist in Tuwa notwendig, weil das Land als notorisch unsicher gilt. Raubüberfälle und Einbrüche sind häufig –wer es sich leisten kann, hat zwei, manchmal sogar drei stählerne Wohnungstüren mit jeweils ein bis drei Schlössern. Die meisten Wohnungsbesitzer sind der Meinung, dass man sich Sicherheit einfach leisten muss.

Das wichtigste Recht der Düngür-Mitglieder besteht darin, die Räumlichkeiten des Hauses für schamanische Sitzungen nutzen zu können – selbstverständlich in Absprache mit Kollegen, Kolleginnen und Sekretariat. In den Sommermonaten ist es in der Regel kein Problem, weil da auch draußen gearbeitet wird, aber im eisigen Winter kann es schon einmal eng werden. Der einzige Arbeitsraum hat schon oft gleichzeitig Rituale von fünf Schamanen oder Schamaninnen erlebt, ist aber damit an eine Grenze gelangt. Das ist einer der wichtigsten Gründe, weshalb „Düngür“ auf Hilfe von außen angewiesen ist, damit erweitert und angebaut werden kann.

Eine eigene Pension als Schamane oder Schamanin gibt es nicht, aber russische Staatsbürger haben Anrecht auf Alterspension – auch dann, wenn sie niemals beschäftigt waren, was auf viele Hirten, Fischer und Jäger zutrifft. Die Minimalpension betrug 6169 RUB (147 €), das offizielle Existenzminimum 6788 RUB (151 €). Weshalb nicht einmal das offizielle Existenzminimum erreicht wird, ist eines der undurchschaubaren Rätsel des russischen Systems. Ein Waisenkind kann gar nur mit 5028 RUB rechnen — der Staat geht offensichtlich davon aus, dass es ohne die Hilfe eines Erwachsenen ohnehin nicht lebensfähig wäre.

Von 15.000 RUB kann man so einigermaßen leben (Durchschnittseinkommen 16.700 RUB). Höhere Angestellte mit entsprechender Qualifikation (Lehrer:innen, Professoren und Professorinnen, Ingenieure und Ingenieurinnen) können mit etwa 25.000 RUB rechnen. Rechtsanwälte, Rechtsanwältinnen und Richter:innen kommen auf das Vierfache.

Schamanismus und Schulmedizin

Die Klientel der Schamanen und Schamaninnen umfasst alle Bevölkerungsschichten. Menschen aus Tuwa sind häufiger darunter, aber auch aus dem übrigen und westlicheren Russland, Europa, Asien und den USA kommen Klienten und Klientinnen. Ein Schamane sagt: „Im Wesentlichen ist es Vertrauenssache. Wer mir vertraut, kommt wieder.“

Die Zusammenarbeit mit Ärzten, Ärztinnen und Spitälern funktioniert vorurteilslos. Die Vertreter der Schulmedizin haben in der Regel nichts dagegen, dass Schamanen oder Schamaninnen ins Spital kommen — aber man fragt sie besser vorher. Manche Ärzte oder Ärztinnen schicken Patienten direkt zu einem Schamanen oder einer Schamanin. Regelmäßige Kooperation gibt es mit einer psychiatrischen Klinik. Die Direktoren laden gelegentlich ein, um ein Spital schamanisch zu „reinigen“.

Stirbt jemand, holt man in Tuwa nahezu immer einen Schamanen oder eine Schamanin. Das ist nach allgemeiner Ansicht die einzige Person, die mit der Seele der Verstorbenen reden kann. Buddhisten und Christen denken im Allgemeinen ähnlich. Konflikte zwischen den Religionen kommen kaum vor. In Tuwa gilt das Prinzip, dass man sich von überallher alles holen kann, was man braucht. Schamanen und Schamaninnen sind die professionellen Interpretierenden im Gespräch zwischen den Verstorbenen und den Hinterbliebenen; sie finden heraus, was die Verstorbenen brauchen, welche Verwandten sie „mitnehmen“ wollen und was die Familie zu „zahlen“ hat, damit sie verschont bleibt. Meist wird ein Tier geopfert. Das ist die „demokratischste“ Lösung, von der alle etwas haben. Die Tradition sieht vor, dass die Schamanen und Schamaninnen am 7., am 49. und am Todestag im dritten Jahr ein Ritual für die Verstorbenen durchführen.

Die Vorstellungen vom Jenseits klingen vertraut. Hat jemand rechtschaffen gelebt, kommt die Seele ins Paradies (Düwaaschan). Eine Art Recht darauf hat etwa eine Frau, die mindestens fünf Kinder geboren hat: „Sie wird im Land ihrer Ahnen wiedergeboren“, versichert ein Schamane. „Und wenn jemand ein böser Mensch war, dann kommt seine Seele ins Land von Erlik, dem Fürsten der Unterwelt. Erlik nimmt aber nicht jeden.“ Was die Alternative ist, bleibt offen, zumal Erlik manchmal auch braven Leuten Gastfreundschaft gewährt und Höllenqualen nicht bekannt sind. Zum Glück kennt die tuwinische Volksmythologie eine Unzahl von Himmeln — den weißen, den blauen, den roten, den schwarzen, die neun Himmel, den Kurbustu-, den Tschagar-Himmel … da sollte sich für jeden — ob sündig oder heilig — das Passende finden.

Paul Uccusic (1937-2013) war Journalist und Gründungsdirektor der Foundation for Shamanic Studies Europe.

Aldynai Seden-Chuurak ist Professorin für Englisch am staatlichen Lyzeum in Kysyl, der Hauptstadt der Republik Tuwa, sowie Diplom-Dolmetscherin für Englisch, Russisch und Tuwinisch.