Stimmen aus der Fakultät

Schamanismus und Alltag im Einklang

Portrait David Vust

Ein Gespräch mit David Vust,
Fakultätsmitglied FSSE (Teil 1 / 2)

Viele Menschen in Europa wachsen auf, ohne jemals mit Schamanismus in Berührung zu kommen. David, Du selbst sagst, Deine erste Begegnung mit Schamanismus sei von Skepsis geprägt gewesen. Nun hältst Du seit einigen Jahren selbst Seminare für die FSSE. Was hat Dich überzeugt?

Es stimmt, ich habe mich lange Zeit gar nicht für Schamanismus interessiert. Ich hatte Interesse für verschiedene spirituelle Richtungen, doch Schamanismus lag ganz außerhalb meiner Welt. Ich habe ihn weder gut noch schlecht gefunden, sondern einfach nicht wahrgenommen. Insofern handelte es sich bei der Skepsis nicht um Ablehnung, sondern eher um Zurückhaltung.

Irgendwann mit Mitte 30 habe ich einen leisen, aber eindeutigen Ruf wahrgenommen und mich zu einem Basis-Seminar angemeldet, weil ich das Gefühl hatte, dass es für mich genau das Richtige zum richtigen Zeitpunkt war. Als es dann soweit war, habe ich mich gefragt, mit welchen Menschen ich wohl zu tun haben und welche Inhalte mir begegnen werden. Ich komme ursprünglich aus der Wissenschaft und neige teilweise dazu, ein „Kopfmensch“ zu sein. Was mich dann aber überzeugt hat, waren meine Erfahrungen bei den schamanischen Reisen.

Ich denke da insbesondere an eine Reise aus meinem ersten Basis-Seminar, die so intensiv war, dass es danach für mich keinen Zweifel mehr gab, dass eine nicht-alltägliche Wirklichkeit existiert. Das ist auch, was mich immer wieder überzeugt hat. Ich bin noch eine Weile gependelt zwischen Zweifel und Überzeugung. Aber dann hatte ich in den Seminaren und schamanischen Arbeiten immer wieder starke Erlebnisse, die jeden Zweifel beseitigt haben; sei es durch Synchronizitäten oder Erfolge bei der Heilarbeit und der Divination.

 

Paul Uccusic hat einmal gesagt, Schamanismus ist etwas für Skeptiker. Gilt das auch für kritisch denkende Menschen, die zum ersten Mal und ohne Vorwissen das Basis-Seminar besuchen möchten?

Ja natürlich, das geht in eine ähnliche Richtung. Ich würde vorschlagen, die Skepsis und das kritische Denken nicht ganz auszuschalten, aber sich im Seminar erst einmal auf die Erfahrungen einzulassen – ohne Bewertungen, ohne in den üblichen, analytischen Schemata zu denken. Man lässt sich auf seine Sinneswahrnehmungen ein. Das kritische Denken ist trotzdem wichtig, kann einem aber manchmal auch im Wege stehen, wenn man die unmittelbaren Erfahrungen durch zu viel Denken verhindert. Darum empfehle ich Offenheit für die eigene Wahrnehmung.

Ich habe Paul Uccusics Worte auch noch im Kopf. Ich begegnete ihm erstmals bei meinem ersten Basis-Seminar. Er sagte zum Beispiel den wunderbaren und befreienden Satz: „Es lohnt sich, über die Schwelle der Peinlichkeit zu gehen“, als er den Krafttiertanz eingeführt hat. Denn Peinlichkeit hat mit Vergleich und Bewertung zu tun. Erst wenn man diese weglässt, kann man die Erfahrung machen. Das ist meiner Meinung nach der einzige Weg im Schamanismus, um Kraft und die weiteren Welten zu erfahren. Mich hat am Anfang außerdem überzeugt, dass ich mich selbst in den Seminaren neu erlebt habe. Ich kannte mich als sehr rastlos und stets planend. In den Seminaren war ich dagegen ganz entspannt im Hier und Jetzt und habe mich überhaupt nicht für das interessiert, was danach kommt. Ich habe einfach erlebt und war danach angenehm genährt. Erst Monate später habe ich darüber nachgedacht, noch einmal ein Seminar zu besuchen, was völlig untypisch für mich war. Wenn ich sonst etwas angefangen habe, dann wollte ich normalerweise gleich das ganze Curriculum durchforsten. Ich möchte daher dazu einladen, die Gelegenheit zu nutzen, sich im Seminar neu zu erleben; jenseits bekannter Muster, Begrenzungen usw.

 

Viele Teilnehmer:innen kommen nach einem Seminar bewegt und in der Kraft nach Hause in den Alltag. Wie geht es dann weiter?

Auch hier ist es nach meiner Erfahrung wichtig, auf seine Wahrnehmung zu achten. Gerade wenn man nach fortgeschrittenen Seminaren nach Hause kommt, finde ich es hilfreich, einfach wahrzunehmen, was sich verändert hat, ohne zu viel darüber nachzudenken. Trotzdem ist es ratsam, selbst weiter zu praktizieren, um in der Kraft zu bleiben.

Ich tue mir allerdings etwas schwer mit „Schönwetter-Schamanismus“, wie meine Schwester das nennen würde. Ich würde nicht so sehr zwischen tollen Erfahrungen im Seminar und dem grauen Alltag trennen wollen. Eigentlich sind Schamanismus und Alltag eins. Die Kraft trägt man in den Alltag hinein. Es geht auch darum, mit seinen Verbündeten in Kontakt zu bleiben. Schamanismus bedeutet auch Arbeit, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen für den Alltag. Das Seminar geht im Alltag weiter. Daher tue ich mir schwer mit der Vorstellung, dass Schamanismus nur von Seminar zu Seminar stattfinden könnte. Das würde nämlich bedeuten, dass keinerlei Integration stattfindet.

 

Gibt es ein Seminar oder ein schamanisches Erlebnis, dass Dich persönlich sehr berührt hat und das Du gerne teilen möchtest?

Es gibt Unzählige (lacht). Ich möchte noch einmal auf mein erstes Basis-Seminar zu sprechen kommen. Dort hatte ich ein Erlebnis, ohne dass ich vermutlich nie wieder ein Seminar belegt hätte. Es war die schamanische Reise, bei der man den Lehrer/ die Lehrerin in der Oberen Welt kennenlernt. Diese Reise hat für mich alles verändert. Sie hat in meiner subjektiven Wahrnehmung mehrere Stunden oder gar Tage gedauert und war von sehr intensiven, mal beängstigenden, mal beglückenden Momenten geprägt; ein sehr tiefes Erlebnis, für das ich heute noch dankbar bin. Die Tragweite dieser Erfahrung habe ich damals so noch gar nicht verstanden, doch diese Reise hat meine Überzeugungen und mein Leben verändert, weil ich danach wusste, wir sind nicht allein. Es gibt weitere Wirklichkeiten, Welten und Wesenheiten, die uns unterstützen.

Das war eine sehr bewegende Erfahrung. Ich fühlte mich danach wie gerüttelt und erlebte mich und meine Umwelt auf eine andere Weise. Dieser Zustand war weder angenehm noch unangenehm. Es war einfach! Und ich fühlte mich voller Vertrauen und mitgetragen. Solche prägenden Momente finden häufig statt. Es gibt auf dem schamanischen Weg immer wieder kleine Initiationen von unterschiedlicher Tiefe, die nicht unbedingt nur angenehm sein müssen. Schamanismus ist keine „Wellness“, kein Wohlfühl-Erlebnis, sondern kann auch hart sein, wenngleich wohltuend. Es muss aber auch nicht immer knallen. Schamanismus kann auch sehr leise und weich sein.

Im zweiten Teil des Interviews, erzählt David Vust davon, wie er Schamanismus in seine Arbeit integriert. Wo findet schamanische Arbeit in unserer Gesellschaft ihren Platz und welche ethischen Aspekte sind dabei zu beachten?

David Vust ist Supervisor, Heilpraktiker für Psychotherapie und Fakultätsmitglied der Foundation for Shamanic Studies Europe.