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Schamanismus in Europa – 30 Jahre Foundation for Shamanic Studies Europe

„Und das ist der eigentlich wesentliche Punkt: dass der Schamane eine soziale Funktion hat. Dass er für andere Hilfe sucht, und weniger für sich selbst.“ – Paul Uccusic (1)

Der Erhaltung, Erforschung und Weitergabe schamanischen Wissens gewidmet

Als Paul Uccusic 1981, damals als Wissenschaftsjournalist für eine große österreichische Zeitung tätig, im Rahmen eines Kongresses in Alpbach, Tirol, erstmals auf Michael Harner traf, war er von dem kohärenten und reproduzierbaren System, das Harner vorstellte, beeindruckt. Nach einem dreistündigen Seminar hatten von den 50 Anwesenden alle die Grundzüge des Schamanismus verstanden und 47 ihre erste schamanische Reise erfolgreich absolviert. Paul Uccusic lud darauf hin Michael Harner nach Wien ein, wo 1982 das erste europäische Basis-Seminar in Core-Schamanismus stattfand.

Als erstes Fortgeschrittenen-Seminar in Europa wurde 1985 „Visionstanz“ angeboten – vor allem deswegen, weil die Arbeiten dieses Seminars uns in die Lage versetzen, mit verlorengegangenem Wissen und in Vergessenheit geratenen Rituale wieder in Kontakt zu kommen. Es ging – und geht auch heute noch – darum, für uns Menschen in Europa Möglichkeiten zu schaffen, unsere schamanischen Wurzeln wahrzunehmen und neu zu entwickeln.

Gründung der europäischen Fakultät

Paul Uccusic hatte im Auftrag Michael Harners 1985 begonnen, Seminare in Europa anzubieten. Die Gründung der Foundation for Shamanic Studies Europe (FSSE) im Jahr 1987 war ein pragmatischer, wenngleich wichtiger Schritt, da dadurch eine seriöse Repräsentanz unserer Arbeit in der alltäglichen Wirklichkeit geschaffen wurde. Nach nunmehr 30 Jahren handeln wir nach der gleichen Maxime: Wir missionieren nicht, sondern handeln bei Bedarf. Wenn man uns ruft, sind wir gerne bereit, auszuhelfen und dazu beizutragen, die Verbindungen zwischen Menschen und Geistern herzustellen oder zu vertiefen.

Die FSSE verfolgt keine Einzel- oder Eigeninteressen, sondern sieht sich im Dienst der Gemeinschaft stehend – da diese das tatsächlich tragende Element ist. Dies wird auf einzigartige Weise beim Seminar „Kraft der Berge“ spürbar. Analog zu einer spirituellen Seilschaft wird diese Woche im Vertrauen aufeinander, sich gegenseitig unterstützend und in Gemeinschaft – Menschen wie Geister umfassend – im wahrsten Sinne des Wortes „begangen“; seit 1987 zuerst in Kaprun, ab 2010 am Fuße des Dachsteins in Österreich und seit 2018 auch in Bulgarien.

Die Kraft des Kreises

Im Rahmen der zweiten Expedition nach Tuwa (2) fand 1994 ein erstes Treffen mit den Schamanen und Schamaninnen in der Schamanischen Gesellschaft „Dungur“ statt. „Als wir im Hof der Dungur ankamen, war dieser so voll von mit nach Hilfe suchenden Menschen, dass wir kaum jemanden begrüßen konnten. Umso mehr überraschte und berührte uns, dass die Schamanen sofort einen Kreis formten, den damaligen Handelsminister (ein großer Förderer des Schamanismus) mit hineinnahmen und uns erwartungsvoll ansahen. Natürlich kamen wir dieser Einladung sehr gerne nach. Es war ein wahrer Brückenschlag, als sie das Lied „I circle around“ anstimmten.“ (3)

Die tuwinischen Schamanen und Schamaninnen sprachen gerne darüber, wie sie 1993 feststellten, welch große Kraft sich durch diesen Kreis aufbauen lässt – eine Kraft, die einem allein nicht möglich ist.

Schamanische Tradition und Transformation

Schamanismus ist – wie das Leben – ständige Veränderung, fortlaufende Transformation und Evolution. Im Dreijahresprogramm, welches 2001 das erste Mal in Europa abgehalten wurde und im Mai 2018 zum elften Mal in Portugal starten wird, werden diese initiatorischen Grundbewegungen des Seins auf zutiefst persönliche Art und Weise erlebt. Die Tiefe der Erfahrungen wirkt nachhaltig. (4)

Auch in der Geschichte einer Organisation sind es die Transformationen, die nachhaltig beeinflussen. Die Fakultät der Foundation for Shamanic Studies Europe – jener Kreis von Menschen, die über Sprachen und Kulturen hinweg als Gemeinschaft arbeiten – ist ein Organismus in sich, darf immer wieder neue Mitglieder begrüßen, muss sich aber auch von manchen verabschieden. Allen voran von Siegfried Kätsch, verstorben 2011, und dem Gründungsdirektor der FSSE, Paul Uccusic, der 2013 von uns ging. Teil des Kreises bleiben sie.

Tradition erkennt man daran, dass Werte, Geschichten, Werkzeuge und Rituale, dass Wissen von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Tradition ist der rote Faden, der Gemeinschaften am Leben hält und sie in die Lage versetzt, sich entlang der verändernden Bedingungen anzupassen und weiterzuentwickeln. In diesem Sinne ist auch die FSSE als eine junge, aber lebendige Tradition zu verstehen. Es ist ein besonderes Privileg, von Pionieren und Pionierinnen zu lernen und gemeinsam mit ihnen, die sie die Verbindung in die Vergangenheit aufrechterhalten, die Gegenwart zu gestalten.

Michael und Sandra Harner, Paul und Roswitha Uccusic, Michael Hasslinger und andere mussten von indigenen Schamanen und Schamaninnen lernen, um den Weg des Wissens für uns „westliche“ Menschen wieder zu finden und aufzunehmen. Die nachfolgenden Generationen konnten bereits darauf zurückgreifen und Schamanismus zuhause, im „nativen“, natürlichen Umfeld, inmitten der eigenen Kultur und im Kontakt mit den lokalen Geistern erlernen. Die Gründer:innen haben die Fundamente gelegt; es liegt an den Nachfolgenden, darauf aufzubauen und neue Impulse zu setzen.

2016 wurde an der Johannes-Kepler-Universität Linz, Österreich, eine von der FSSE veranstaltete internationale Tagung zum Thema „Schamanismus und Wissenschaft“ abgehalten. Mehr als 165 Menschen aus über zehn Ländern und zwei Kontinenten haben teilgenommen. Das daraus entstandene Buch liegt in der zweiten Auflage vor, konkrete Projektkooperationen werden vorbereitet. Am 22. Juni 2018 wird in Basel, Schweiz, eine Tagung zu „Schamanismus und Ökologie“ stattfinden. Der Anspruch ist, Themen am Puls der Zeit aufzugreifen, interdisziplinär zu betrachten und an Lösungen für heranstehende Probleme proaktiv mitzuwirken. (5)

Zur Essenz unserer Arbeit

Ein Jubiläum gibt Anlass, innezuhalten und sich der Verantwortlichkeiten bewusst zu werden. Es gilt, sich auf die wesentlichen Qualitäten, den Kern, zu besinnen und die daraus ableitende Qualität und Kraft konsequent umzusetzen.

Die Foundation for Shamanic Studies Europe – als einzige autorisierte Organisation in Europa und mitgestaltende Größe des Core-Schamanismus – sieht es als ihre Aufgabe, Menschen den Schamanismus auf seriöse, sichere, differenzierte und qualitätsvolle Weise näherzubringen. Core-Schamanismus bedeutet, den Kontakt zu den eigenen Geistern herzustellen, sie zu konsultieren und durch direkte Erfahrung von ihnen zu lernen und jene Kraft und Information zu erhalten, die benötigt wird.

Aus dieser conditio sine qua non folgt geradezu zwangsläufig ein Zugang zu Ausbildung, der geprägt ist von der Förderung von Mündigkeit, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung, in dem Fremdbewertungen und Diplome widersinnig und absurd erschienen, und der sich von jeglicher Art des „Gurutums“ abgrenzt. Schamanismus ist die Arbeit mit den Geistern, zum Wohle der Menschen. Es braucht dazu Vermittler:innen, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Eine veränderte Perspektive

Unsere heutige Zeit ist von Komplexität und Vielfalt gekennzeichnet. Dies bedeutet Gestaltungsmöglichkeiten, aber auch Herausforderungen. Viele Menschen sehnen sich nach Entlastung, nach Tiefgang, nach Verwurzelung, Standfestigkeit und Substanz. Der drohende Klimawandel erinnert uns daran, dass Respekt vor der Natur und vor dem Leben an sich unabdingbar ist, um überleben zu können. Einschichtige Ideologien bäumen sich (ein hoffentlich letztes Mal) auf; simple Lösungsansätze scheinen Konjunktur zu haben, ohne echten Fortschritt zu initiieren.

Schamanen und Schamaninnen treten vorübergehend aus der Dynamik und Sogwirkung der alltäglichen Wirklichkeit heraus, suchen die Geister auf, und kehren in ihre Gemeinschaft zurück, um das Wissen und die Kraft der Geister für die Menschen verfügbar zu machen. Es bedarf dieses erweiterten Horizonts, dieser Eleganz der Problemlösung und dieser Zeitlosigkeit der Perspektive. Schamanismus ist prädestiniert dazu, einen wertvollen Beitrag zum Gedeihen von Mensch und Natur zu leisten. Es geht nicht um absolutistische Wahrheiten, sondern um plurale Weltsichten, um Alternativen, um wahrhaftige Zusammenarbeit.

Aufrichtig danken wir den abertausenden Menschen, die an unseren Seminaren teilgenommen haben und teilnehmen, die unsere Aktivitäten verfolgen und unterstützen, die Core-Schamanismus im Dienst der Gemeinschaft praktizieren, den Weg zu einem gemeinsamen machen. Und wir bitten sie, uns auch künftig zu begleiten. Der Schamanismus ist ein Erbe der Menschheit, dessen Weisheit es zu bewahren, zu erforschen und weiterzugeben gilt – zum Wohle heutiger wie künftiger Generationen.

 

Quellen und Anmerkungen

(1) Paul Uccusic (2005): persönliches Gespräch.

(2) Es wurden bis dato insgesamt fünf Expeditionen durchgeführt (1993, 1994, 1995, 1999, 2003), davon vier von der FSSE organisiert. Zusätzlich fanden regelmäßige Besuche statt. 1996 präsentierte eine tuwinische Delegation ihre schamanische Tradition im Rahmen des 1. Psychotherapie-Weltkongresses (!) in Wien und wurde zum Publikumsmagneten. Aus der jahrzehntelangen Verbindung mit Tuwa entstanden 2011 und 2013 zwei Bücher, deutsche Übersetzungen der „Schamanengeschichten aus Tuwa“ und der „Schamanengesänge aus Tuwa“, jeweils herausgegeben von Paul Uccusic.

(3) Roswitha Uccusic (2017): persönliche Mitteilung.

(4) Zwischenzeitlich ist für das Jahr 2021 das 13. Europäische Dreijahresprogramm in Fortgeschrittenen schamanischen Initiationen und schamanischem Heilen geplant, das im Norden Deutschland stattfinden soll. Stand: September 2020.

(5) Die dritte Tagung der FSSE fand in Juni 2020 erstmals in einem virtuellen Format zum Thema „Schamanismus und Digitalisierung“ statt. Auch das daraus entstandene Buch ist erstmals digital verfügbar. Stand: September 2020.

 

Mag. Roland Urban ist Geschäftsführer der Foundation for Shamanic Studies.