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Schamanismus als alltägliche Praxis

Es ist nicht zu leugnen oder zu ignorieren, dass die Welt neuerlich in Unordnung geraten ist. Ökologische und ökonomische Krisen nehmen zu, Fundamentalismus und Terrorismus treten wieder in den Vordergrund, es herrscht Krieg, nicht nur in Syrien und dem Nahen Osten, sondern auch in Europa.

Gerade in derartigen Zeiten benötigt es eine differenzierte Perspektive und Besonnenheit. Die Aufgabe der Schamanen und Schamaninnen war und ist es, nicht von Angst, Wut, Frustration oder Resignation überwältigt zu werden, sondern einen Schritt zurück zu treten, die verbündeten Geister anzurufen, einen Blick auf das größere Bild zu wagen, und mit einer Qualität von Information und Kraft zurückzukehren, die ihnen selbst und ihrer Gemeinschaft Zuversicht bringt und Hoffnung gibt.

Konkrete Lösungen für konkrete Herausforderungen

Der amerikanische Anthropologe William Lyon, der sich seit circa einem halben Jahrhundert sowohl wissenschaftlich als auch praktisch mit nordamerikanischen Kulturen beschäftigt, sieht einen wesentlichen Unterschied zwischen indigenen Schamanen bzw. Schamaninnen und ´westlichen´ schamanisch Praktizierenden: Schamanisch Praktizierende neigen dazu, „die Welt“, „die Erde“ oder „Mutter Natur“ retten zu wollen; wohingegen indigene Schamanen und Schamaninnen immer versuchen, konkrete Lösungen für aktuelle Herausforderungen ihrer eigenen Gemeinschaft hervorzubringen (1). Mit anderen Worten: Veränderung findet nicht anderswo statt, sondern passiert inmitten unserer eigenen Gemeinschaft.

Eine weitere Differenz wird in der eigentlichen schamanischen Praxis evident. Manchmal bekommt man den Eindruck, als würden schamanisch Praktizierende die Intensität (und auch Qualität) der schamanischen Arbeit an der Anzahl der Reisen pro Woche, pro Monat, etc. messen. Schamanismus ist aber mehr als Technik und deren Anwendung. Schamanismus kann als Arbeitshypothese darüber, wie Natur funktioniert, verstanden werden; als eine bestimmte Art der Wahrnehmung und Weltsicht. Schamanismus umfasst die Auseinandersetzung mit dem Leben und damit tägliche Praxis. Für uns schamanisch Praktizierende des so genannten Westens gilt es, in unseren Kulturen die Mittel und Wege, die Handlungen und Rituale herauszufinden, wie wir dieser Verbundenheit regelmäßig und alltäglich Ausdruck verleihen können.

Ein Blick über den Tellerrand

Der Blick zu indigenen Kulturen kann in dieser Hinsicht Einiges deutlich machen und anregen. Die Heiler der Mekeo in Papua Neu-Guinea stehen nicht nur mittels konventioneller schamanischer Arbeit oder Träumen mit den Geistern in Kontakt. Vielmehr ist ihr gesamtes Wachbewusstsein von einer Gewissheit der Existenz und Bedeutung der nicht-alltäglichen Wirklichkeit geprägt. Die Mekeo erleben die physische Welt durchwirkt von einer spezifischen Qualität, einer Kraft, die sie mit den Ahnengeistern verbindet. (3)

Schamanische Kraft ist also immer und überall verfügbar. Es liegt an uns und unserer Intention, diese in der alltäglichen Wirklichkeit (auf adäquate und ethisch korrekte) Art und Weise zu manifestieren. Die Geister helfen uns dabei – wann immer wir sie absichtsvoll rufen.
Hinzugefügt sei, dass es für uns, die wir in einer hochtechnisierten und vom Informationszeitalter beeinflussten Kultur leben, unerlässlich ist, klar zwischen alltäglichen und veränderten bzw. schamanischen Bewusstseinszuständen zu unterscheiden. Dass es etwa dringend empfohlen ist, eine Autofahrt oder das Bedienen einer Maschine im alltäglichen (und nicht im schamanischen) Bewusstseinszustand zu verrichten, erscheint selbstredend.

Die !Kung der Kalahari-Wüste, an der Grenze Namibias und Botswanas, erlauben uns einen tiefen Einblick in das Thema Heilarbeit. Für die !Kung ist jede Heilarbeit eine Verhandlung mit den Geistern. In Tänzen, welche die Nacht hindurch andauern, fungieren die Heiler und Heilerinnen als Repräsentanten der Gemeinschaft. Angefüllt mit spiritueller Kraft ziehen sie Krankheit heraus bzw. disputieren mit den Geistern. Für die !Kung kommen wir Menschen aus der nicht-alltäglichen Wirklichkeit – und wir kehren auch wieder dorthin zurück. Es liegt letztlich an den Geistern zu entscheiden, wann der Zeitpunkt des Todes gekommen ist und die Rückkehr in den Kreis der Ahnen ansteht. Wird der/die Betroffene von den Ahnen endgültig gerufen, stirbt er/sie. Heilung im klassischen Sinne hingegen tritt dann ein, wenn die Verhandlung der Gemeinschaft und der Heiler mit den Geistern erfolgreich war. (4)

Das Beispiel der !Kung belegt, dass wahre Veränderung des Einflusses der Geister bedarf und nachhaltige Balance nur durch eine fortlaufende Kommunikation zwischen Gemeinschaft und Geister gesichert werden kann.

Alltägliche schamanische Praxis

Die kontinuierliche Manifestation von spiritueller Kraft im alltäglichen Leben empfiehlt sich auch für uns. Dies kann durch klassische Heilarbeit geleistet werden (5) – oder etwa durch alltägliche Praktiken.

Zu Letzterem ein paar Beispiele, die Anregungen für die schamanische Arbeit liefern könnten: Eine Teilnehmerin des Seminars „Die Kraft der Berge“ erzählte im Vorjahr davon, dass es früher in den ländlichen Gebieten Österreichs Aufgabe der alten Menschen war, für das Dorf zu beten. Die Älteren bekamen dadurch nicht nur einen angemessenen Platz und erfuhren Wertschätzung, Achtung und Anerkennung; es wurde dadurch auch ihre Bedeutung offenbar, die Notwendigkeit ihrer spezifischen Kraft für die Gemeinschaft, die sie regelmäßig einbrachten.

Menschen, die viel Zeit in der Natur verbringen, ein Stück Land oder einen Garten ihr Eigen nennen oder Landwirtschaft betreiben, kennen den jahreszeitlichen Kreislauf. Sie wissen, wann welche Pflanzen wachsen und zu blühen beginnen; sie wissen, welche Tiere wann in Erscheinung treten, um dann wieder aus dem Blickfeld zu verschwinden; und welche bleiben, um den Menschen das Jahr über zu begleiten.

Mit bestimmten Tieren und Pflanzen wird eine jeweils spezifische Kraft verfügbar. Gärten, Wälder, Landschaften sind als Ökosysteme zu verstehen – in der alltäglichen wie auch in der nicht-alltäglichen Wirklichkeit. Die Verwobenheit dieser beiden Seiten derselben Medaille kann genutzt werden, um einen noch kraftvolleren Ort entstehen zu lassen. Dazu bedarf es einer gewissen Sensibilität und andauernder Arbeit, sprich: einen persönlichen Beitrag, in beiden Wirklichkeiten. Die tatsächliche Kraft und Schönheit eines Platzes werden evident, wenn beide, Geister und Menschen, in Partnerschaft kooperieren.

Schlusspunkt: Die Geister im Alltag

Beim nomadischen Teil der Bevölkerung Tuwas beginnt die Hausfrau, die Herrin der Jurte, den Tag damit, Tee aufzukochen. Der erste Tee ist den Geistern gewidmet. Die Hausfrau nimmt eine Schale mit dem Morgentee, tritt aus der Jurte hinaus und bringt den Tee mit dem neunäugigen Löffel (Tos-karak) aus. „Dazu spricht sie folgendes Gebet:

Meine goldene Sonne, erbarme dich!
Mein heller Mond, erbarme dich!
Mein Berggipfel, erbarme dich!
Glut meines Herdes, erbarme dich!
Meine Gottheit, erbarme dich!
Mein Meerwasser, erbarme dich!
Meine Mutter Erde, erbarme dich!
Mein Vater Himmel, erbarme dich!
Mein rauschender Wald, erbarme dich!
Meine goldene Sonne, erbarme dich!
Mein El-Volk, erbarme dich!
Für meine weiße Jurte erbarme dich!
Für meine kleinen Kinder erbarme dich!
Wenn das Ritual der Opferung des Morgentees an die Geister nicht durchgeführt wird, dann erfüllt sich der Traum nicht, so heißt es.“

(Oorschak Duruja Möngejewna) (6)

 

Quellen

(1) William Lyon (2014): persönliche Mitteilung. William Lyon ist u.a. Autor des Buches ´Spirit Talkers: North American Indian Medicine Powers´, Kansas City: PEP, 2013.

(2) vgl. Michael Harner (2010): A Core Shamanic Theory of Dreams. Shamanism Annual. Issue 23, December 2010. S. 2-4.

(3) Michele Stephen (1995): A´aisa´s Gifts: A Study of Magic and the Self. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press. S. 241.

(4) Richard Katz (1982): Boiling Energy: Community Healing among the Kalahari Kung. Cambridge, Massachusetts, London: Harvard University Press.

(5) vgl. Susan Mokelke (2009): Core Shamanism and Daily Life. Shamanism Annual. Issue 22, December 2009. S. 23-25.

(6) Mongusch B. Kenin-Lopsan (2011): Schamanengeschichten aus Tuwa. Herausgegeben von Paul Uccusic. Göttingen: Lamuv. S. 195.

 

Mag. Roland Urban ist Geschäftsführer der Foundation for Shamanic Studies.