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Wie Teile eines kosmischen Puzzles – Landkarten der nicht-alltäglichen Wirklichkeit

„Schamanen haben ihre Landkarten im Kopf.“ – Michael Harner (1)

Schamanische Kartografie

Die Praxis des Core-Schamanismus ermöglicht schamanisch Praktizierenden eigene Erfahrungen der nicht-alltäglichen Wirklichkeit und gibt ihnen so eine neue spirituelle Freiheit, „[…], nämlich die Freiheit, zu wissen und nicht mehr nur zu glauben […]“ (2). Zu dieser Freiheit gehören die mit jeder schamanischen Reise umfangreicher werdenden Kenntnisse über das, was im Core-Schamanismus die „Außerzeitlicheit der Oberen und Unteren Welt“ genannt wird. In seinem letzten Buch, dem 2013 erschienenen Band „Höhle und Kosmos“, gibt uns Michael Harner (1929–2018) dazu diese Ermutigung mit auf den Weg: „[…] wie die Teile eines kosmischen Puzzles werden sich Ihre einzelnen Reisen nach und nach zu einem Gesamtbild zusammensetzen.“ (3)

Dieses Gesamtbild ist nicht mehr und nicht weniger als eine Karte der nicht-alltäglichen Wirklichkeit. Wir Menschen erstellen Karten dieser Art – ohne nachzudenken – laufend in unserem Alltag, ein Prozess, der in Psychologie und Geografie als „kognitives Kartieren“ bezeichnet wird. Dabei geht es zunächst um Orientierung, letztlich aber um „[…] die Art und Weise, wie wir uns mit der Welt um uns herum auseinandersetzen und wie wir sie verstehen.“ (4)

Selbst wenn Wissenschaften, wie insbesondere die moderne Quantenphysik und Mathematik, längst deren Begrenztheit aufgezeigt haben, sind unsere Erfahrungen von der Alltagswirklichkeit nach wie vor von der sogenannten euklidischen Geometrie (5) und den newtonschen Gesetzen (6) geprägt. Bei schamanischen Reisen in die nicht-alltägliche Wirklichkeit begeben wir uns jedoch auf Terrain, in dem die von Euklid von Alexandria und Sir Isaac Newton formulierten Gesetze und Axiome nicht gelten. Raum, Zeit und Kausalität haben hier nicht die gleiche Bedeutung wie im Alltag der physikalischen Welt: In der schamanischen Reise können wir durch die Lüfte fliegen und riesige Distanzen in kürzester Zeit überwinden. Die Zeit vergeht gänzlich anders als gewohnt, Vorher und Nachher, Ursache und Wirkung können durchaus die Rollen tauschen.

Orientierung und Wissen in der nicht-alltäglichen Wirklichkeit

Sich in der Oberen und in der Unteren Welt gut zurechtzufinden, befriedigt nicht nur unseren möglicherweise vorhandenen Forscherdrang. Orientierung in der nicht-alltäglichen Wirklichkeit ist kein Selbstzweck, sondern ein wichtiger Teil unseres schamanischen Wissens und Voraussetzung für wirksame schamanische Arbeit. Das beginnt mit der Bedeutung unseres Startplatzes in der Natur als „Nullpunkt“ der Orientierung und damit für unsere Fähigkeit, eine sinnvolle Karte der nicht-alltäglichen Wirklichkeit zu erarbeiten. Harner erinnert uns daran, wie wichtig es ist, hier jeweils möglichst vom selben Platz aus zu reisen, so wie Kartografen von einem festen Bezugspunkt aus ihre Arbeit verrichten: „Je mehr Reisen sie vom selben Ort aus unternehmen, desto mehr Einzelheiten können sie in ihre mentale Landkarte eintragen.“ (7) Langsam formt sich aus Einzelteilen eine Landkarte und aus Karten der verschiedenen Bereiche der nicht-alltäglichen Wirklichkeit eine schamanische Kosmologie.

Solche Landkarten ermöglichen uns auch, bestimmte Orte in der nicht-alltäglichen Wirklichkeit wiederzufinden, wie etwa den Platz und die Ebene in der Oberen Welt, wo wir einem bestimmten Lehrer oder Lehrerin begegnet sind. Mit diesem Wissen ausgestattet können wir unsere Verbündeten verlässlich wieder aufsuchen und konsultieren. (8) Eine laufend verbesserte Landkarte der nicht-alltäglichen Wirklichkeit ist ein Instrument unserer Autonomie, der Fähigkeit, durch unsere Absicht – etwa für jemanden Heilung zu bringen – die Reise zu steuern und die Heilarbeit auszuführen. Dies geschieht zwar mit der Kraft und Weisheit unserer Verbündeten, aber letztlich eigenverantwortlich durch uns selbst. Und dazu müssen wir wissen, was wir tun, an wen wir uns wenden und wohin wir reisen.

An sich sind, ganz im Sinne der mündlichen Traditionen schamanischer Kulturen und auch des Core-Schamanismus, rein mentale „Landkarten im Kopf“ für die schamanische Praxis völlig ausreichend. Schamaninnen und Schamanen aller Zeiten und Kulturen sind grundsätzlich sehr verschwiegen, was dieses höchst persönliche Wissen betrifft, so wie sie zumeist auch wenig Auskunft über ihre Verbündeten geben. Es kann aber für den eigenen Lernprozess oder auch für das gemeinsame Lernen in Seminaren hilfreich sein, unser Wissen über die Kosmologie entweder durch schriftliche Berichte unserer Reisen – quasi „erzählte Karten“ – oder auch durch grafische (bzw. anderweitige) Darstellungen zu dokumentieren.

Legen wir solche Dokumentationen an, so lernen wir Zusätzliches über den dynamischen Charakter der Außerzeitlichkeit. Orte in der Oberen und Unteren Welt verschieben sich. Wege zu diesen Orten verlaufen anders, unerwartete Abkürzungen tun sich auf.  Wir gelangen plötzlich tiefer in Terrain, an dem wir oft nichtsahnend vorbeigegangen sind. Diese Dynamik mag uns daran erinnern, dass auch unsere eigene schamanische Entwicklung kein linearer Prozess, sondern ein von Umwegen und Überraschungen, von Hindernissen und unerwarteten Fortschritten, letztlich ein von Transformationen und Initiationen geprägter Weg ist.

Systematische Vergleiche

Schriftliche Berichte und grafische Karten gestatten darüber hinaus eine systematische, vergleichende Betrachtung der Erfahrungen schamanisch Praktizierender, ihrer Unterschiede und insbesondere auch ihrer erstaunlichen Parallelen. Derartige vergleichende Betrachtungen schamanischer Kulturen und Methoden stand auch am Beginn der Entwicklung des Core-Schamanismus durch Michael Harner. Über Jahrzehnte hinweg hat die Foundation for Shamanic Studies in Nordkalifornien im Rahmen eines eigenen Projektes zur Kartierung der nicht-alltäglichen Wirklichkeit (MONOR – Mapping of Nonordinary Reality) eine Sammlung solcher Berichte und Karten angelegt. Diese Erfahrungen westlicher Praktizierender des Core-Schamanismus sind Teil des „Shamanic Knowledge Conservatory“, einer weltweit einzigartigen Sammlung schamanischen Wissens. Sie dokumentieren die junge, sich seit den 1970er-Jahren entwickelnde Tradition des Core-Schamanismus und ergänzen auf diesem Wege das Archiv der Foundation mit seinem umfassenden Material zu nativen schamanischen Kulturen. Dort sind auch historische Darstellungen schamanischer Kosmologie dokumentiert, wie sie etwa auf Trommeln oder auf Höhlenwänden zu finden sind.

Ergebnisse aus Studien zu zeitgenössischen Berichten über die Obere Welt wurden unter dem Titel „Celestia Studies“ (von lat. coelum – Himmel) zusammengefasst und auszugsweise in Michael Harners Buch „Höhle und Kosmos“ veröffentlicht. Eine vergleichbare Studie zur Unteren Welt – „Netheria Studies“ (von engl. nether – unten) – steht noch aus, wenngleich Harner bereits 1980 in seinem Buch „Der Weg des Schamanen“ wichtige Erkenntnisse dazu dargestellt hatte. (9)

Das Lebenswerk von Michael Harner, die Methodologie des Core-Schamanismus und die Studien zur Kartierung der nicht-alltäglichen Wirklichkeit mögen uns dazu ermutigen, eigene Erfahrungen auf schamanischen Reisen zu machen und mit jeder Reise unsere Orientierung zu verbessern. Konsequente schamanische Praxis und Arbeit an unserer – mentalen, erzählten oder gezeichneten – Landkarte bieten uns die Chance zu einem immer reicheren und differenzierteren Bild der Außerzeitlichkeit und so zu wirksamerer Divination und Heilarbeit. Schrittweise setzen sich für uns Teile eines kosmischen Puzzles zusammen und wir gelangen zu einem tieferen Verständnis der Welt – sowohl in der alltäglichen als auch in der nicht-alltäglichen Wirklichkeit.

 

Quellen

(1) Harner, Michael (2013): Höhle und Kosmos. München. Ansata / Random House. S. 116. (nunmehr erhältlich als: Die Wirklichkeit des Schamanen: Ein Wegweiser in verborgene Welten und Bewusstseinsräume. München: Heyne.)

(2) Ebenda. S. 9.

(3) Ebenda. S. 360.

(4) Downs, Roger M./Stea, David (1982): Kognitive Karten: Die Welt in unseren Köpfen. New York: Harper & Row / UTB. S. 23.

(5) Von dem griechischen Mathematiker Euklid von Alexandria im 3. Jahrhundert v. Chr. in seinem Werk „Die Elemente“ dargestellt.

(6) Von dem englischen Naturforscher Sir Isaac Newton (1643–1727) in dessen 1687 erschienenem Werk „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ (lat.; „Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie“) formuliert.

(7) Harner, Michael (2013), S. 116.

(8) Ebenda S. 362.

(9) Ebenda S. 119.

 

Dr. Andreas J. Hirsch ist Autor, fotografischer Künstler, Kurator, Herausgeber und Fakultätsmitglied der Foundation for Shamanic Studies Europe.