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Die alten Gläubigen Sloweniens

Von der Erde zur Überwelt

„Die Erde gehört den Menschen, Tieren und Pflanzen, und die Geister überfliegen alles. Der erste große Geist ist der Wind, der sich von der Erde zu den Wolken bewegt. Über ihm gebietet der Wassergeist, der von Zeit zu Zeit den gesamten Weg zur Erde hinabsteigt. Direkt unterhalb der unsichtbaren Himmelsdecke entfaltet sich die unermessliche Weite von Donner und Blitz. Überhalb des Himmels befindet sich die dritte Welt, die Heimat des Mondes, der Sonne und der Sterne. Erst danach kommt die Überwelt, wo Nikrmana regiert und alles unterhalb und oberhalb der Erde beherrscht. Jenseit der Überwelt existiert eine unbekannte Nicht-Welt, die ein ewiges Geheimnis für die Menschen ist und bleiben wird.“

Erzählt von: Janez Jug, Široka njiva, 1965 (S. 434)

 

Im obereren westlichen Teil Sloweniens, verstreut über die hügelige Landschaft des mittleren Soča Flusstales, erhielten sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Gemeinschaften von Menschen, die von der sie umgebenden katholischen Mehrheitsbevölkerung staroverci, „die alten Gläubigen“, genannt wurden. Diese Menschen teilten eine Tradition, verankert in einer tiefen, persönlichen Verbindung zur Natur und all ihrer Erscheinungsformen. Sie kannten die Kräfte der Natur und vertrauten auf sie. Sie verehrten natürliche Heiligtümer – Höhlen, Hügel- und Berggipfel, Bäche und Flüsse, Bäume und Felsen –, wohlwissend, dass deren natürliche und spirituelle Kräfte heilend und beschützend wirken.

Dehnar, die Kraft des Dreiecks, Schlangenköpfe und Nikrmana

Jede dieser Gemeinschaften des alten Glaubens wurde von einem dehnar, einer spirituellen und moralischen Autorität, angeführt. Der dehnar besaß das profundeste Wissen über den alten Glauben, verfügte über ausgeprägte rhetorische Fähigkeiten und fungierte als Vertrauensperson, Schiedsrichter, Vermittler, und Übersetzer alle Belange des alten Glaubens betreffend. Ein dehnar wurde als Säugling von Nikrmana dazu auserwählt (S. 563). Um ein wahrer dehnar zu werden, bedurfte es der höchsten ethischen Prinzipien, Gutherzigkeit, Ehrlichkeit und moralische Sensibilität.

Die alten Gläubigen vertrauten in die Kraft des Dreiecks (tročan). Jeder Aspekt des Lebens war bestimmt durch die Triangularität – tročanstvo. Das innere persönliche Dreieck (das ´Blutsdreieck´) wurde durch Mutter, Vater und Kind gebildet. Die Häuser wurden inmitten von Dreiecken gebaut oder enthielten Dreiecke in ihren Fundamenten; Obstgärten wurden in Dreiecken angelegt. In der umgebenden Landschaft platzierten die alten Gläubigen schützende Dreiecke aus drei größeren ovalen Steinen – genannt kačje glave (´Schlangenköpfe´) –, welche ´die dritte Kraft´ beinhalteten und für Gleichgewicht in der betreffenden Region sorgen sollten. Diese ovalen Steine wurden an zwei Stellen durchbohrt, die entstandenen Löcher mit verschiedenen Materialien (z.B. Glas, Metall, Holz, Obstkernen) gefüllt, wodurch ein Schlangenkopf samt Augen repräsentiert wurde. Ein derartiger Schlangenkopf wurde im Rahmen des Rituals ozben durch den dehnar und seinen drei vereidigten Assistenten geweiht und mit der Kraft von Nikrmana, der größten der alten Kräfte der Natur, die alles auf Erden kreiert, dirigiert und beeinflusst, aufgeladen. Die Schlangenköpfe wurden schließlich auf Berggipfel oder in Höhlen platziert – Dreiecke der Kraft formend, die alles und jeden innerhalb dieses Dreiecks beschützt.

Eines der wichtigsten Dreiecke war Veliki beli tročan, das Große Weiße Dreieck, welches zwischen der Babja jama Höhle (der heiligsten Stätte der alten Gläubigen, die für Rituale des dehnar ebenso genutzt wurde wie für divinatorische und Heilarbeit), dem Jazbenk Abgrund und dem Kačja hrupa Abgrund aufgespannt war. Wie einer der alten Gläubigen, Leopold Žabar, ausführte, war die Höhle Babja jama das irdische Herz von Nikrmana, in ihrem Inneren wohnte und herrschte die große weiße Schlange (S. 428). (1)

Die große weiße Schlange galt als eines der heiligsten Tiere Nikrmanas und stand, gemeinsam mit ihren Geschwistern, dem goldenen Adler und dem schwarzen Wolf, unter dem Einfluß der Mutter Mond (483). Der Mond war von allerhöchster Bedeutung für die alten Gläubigen; sie orientierten ihr alltägliches Leben und ihre gesamte Landwirtschaft am Mond und ihren Phasen.

Nikrmana selbst (auch als Velika Mat oder Velika Baba – ´die Große Mutter´ oder ´die Große Alte Frau´ bezeichnet) verfügte aus Sicht der alten Gläubigen über keine fixe Gestalt. Vielmehr erschien sie verschiedenen Menschen in unterschiedlicher Form, als Blitzschlag in der Nacht oder als Wolkenwesen im Himmel. Manche sahen sie als Frau, andere als Pferd, als Stier, als Schlange oder als Einhorn (S. 565).

Geister – zduhec und die Geister der Natur

Die alten Gläubigen wussten von der Existenz der Geister. Die Häuser der alten Gläubigen wurden üblicherweise von steinernen Hausgeistern beschützt. In ihren Geschichten sprechen sie von diversen Geistern der Natur, von Wassergeistern, Steingeistern oder Geistern, die an bestimmten Plätzen anzutreffen sind – etwa dem Geist des Jazbenk Abgrundes, dem Opfergaben dargebracht wurden. In ähnlicher Weise suchten sie die Brücke des Padence Heiligtums auf, die 15 Meter über der Doblarec-Schlucht liegt: Wenn sie mit einem Wunsch oder der Bitte nach Heilung gekommen waren, richteten sich die Menschen zum Bachlauf hin aus und warfen eine Gabe flussaufwärts in das Wasser; wenn sie gekommen waren, um dem Wassergeist für die Erfüllung des Wunsches oder für Heilung zu danken, taten sie dies in Richtung flussabwärts.

Die alten Gläubigen sprechen von zduhec, dem ´kleinen Geist´, was sowohl auf Geister im Allgemeinen als auch den persönlichen Geist, die Seele, verweisen kann. Sie nahmen an, dass jede Person ihren persönlichen zduhec besitzt. Dieser beschützt die betreffende Person und kann in Bezug auf jedwede Frage konsultiert werden. Zduhec konnte alternativ den Geist eines/einer Verstorbenen, der/die in einer anderen Form auftritt, meinen. Die alten Gläubigen verstanden, dass der Körper mit dem Tod stirbt, der Geist aber aus dem Körper austritt und in die Überwelt übergeht – oder als Tier, z.B. als Habicht, Schmetterling, Fledermaus oder Libelle, in den irdischen Gefilden weiter existiert.

Jeder und jede konnte mit den Geistern kommunizieren, durch Gedanken, Wünsche oder Träume. Jedoch nur mit jenen Geistern, die man während des physischen Lebens kannte. Wollte man mit weit zurückliegenden Ahnen in Verbindung treten, war dies mit Hilfe eines dehnar oder eines vidon, eines Sehers, möglich. Nur sie waren dazu in der Lage, in die Vergangenheit und in die Zukunft zu sehen (S. 569).

Die Praxis des alten Glaubens gilt heute als verloren, es wird niemand mehr in die Tradition der alten Gläubigen hineingeboren. Es gibt jedoch Kontakte zu einigen Überlebenden, die den alten Glauben bis heute aufrechterhalten und die heiligen Rituale durchführen. Ihre Identität möchten sie nicht offenbaren.

Pavel Medvešček – Das Zeugnis des Außenstehenden

In den 1960er und 1970er Jahren wurde der Journalist und Künstler Pavel Medvešček von einer staatlichen Agentur damit beauftragt, Informationen über das kulturgeschichtliche Erbe der Gemeinschaften im Soča-Tal Sloweniens zu sammeln und zu sichern.

Medvešček, vorerst als forešt, als Außenstehender, als Fremder wahrgenommen, wurde letztlich in die Weisheit und die Tradition der alten Gläubigen, welche Jahrhunderte lang vor der Außenwelt geheim gehalten worden waren, eingeweiht. Janez Strgar, mit dem Medvešček eine tiefe Freundschaft unterhielt, erklärte dies folgendermaßen: „Du bist nicht einer von uns, aber Du musst der Geist eines von uns sein. Dies ist der Grund, warum ich Dir vertraue.“ (S. 523)

Pavel Medvešček hatte Janez Strgar geschworen, dass er das Wissen über die alten Gläubigen niemandem gegenüber preisgeben würde, bis die Sichel des Mondes sich der Erde zuneigen würde. 2007, 42 Jahre nach dem Eid, war dieser Moment gekommen: Der Mond erschien im Zuge einer Mondfinsternis derart, als würden die Enden seiner Sichel nach unten zeigen. Medvešček hatte Wort gehalten. Erst seit 2007 gibt er seine Erkenntnisse über die alten Gläubigen Sloweniens weiter. Das wichtigste Zeugnis des alten Glaubens stellt das Buch Iz nevidne strani neba („Von der unsichtbaren Seite des Himmels“) dar.

 

Anmerkungen

(1) 1903, während der Bahnbauarbeiten entlang des Soča Flusses, wurde ein heiliger Felsen namens Škurblja, der einen Teil des kleineren Dreiecks der Babja Höhle bildete, zerstört. Die alten Gläubigen berichteten, dass dies die große weiße Schlange dazu veranlasste, die Höhle zu verlassen. Sie floh unterirdisch zum Jazbenk-Abgrund, aus dem sie in Form eines Adlers wieder auftauchte und davonflog.

Sara Sajovec ist schamanisch Praktizierende mit Sitz in Ljubljana, Slowenien.

Der Artikel basiert im Wesentlichen auf der Publikation Pavel Medvešček (2016): Iz nevidne strani neba: razkrite skrivnosti staroverstva. Ljubljana: Založba ZRC, ZRC SAZU. Sämtliche Seitenangaben beziehen sich darauf.