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Core-schamanische Traumtheorie

Dieser kurze Aufsatz dient dazu, meine schamanische Traumtheorie zu erläutern, die ich zum ersten Mal am 14. August 2010 und am 25. September 2010 in San Franzisco, USA, anlässlich der ersten öffentlichen Traumarbeit-Seminare für die Foundation for Shamanic Studies vorgestellt habe, zu erläutern. Die Theorie entstand in jahrzehntelanger Feldarbeit und mit Hilfe vergleichender Studien verschiedener indigener schamanischer Kulturen; gemeinsame Prinzipien traten zutage und wurden durch genaue experimentelle Prüfungen bestätigt. Mit anderen Worten: Die Theorie entstand auf dem Boden des Core-Schamanismus.
Dieser Artikel befasst sich mit der allgemein menschlichen Erfahrung des Träumens und bietet einen neuen Ansatz für den Umgang mit Träumen sowie deren Interpretation und Deutung. Der Aufsatz adressiert hauptsächlich fortgeschrittener Studenten und Praktizierender des Core-Schamanismus, insbesondere an die Absolventen der Dreijahresprogramme in fortgeschrittenen schamanischen Initiationen und schamanischem Heilen. Ich gehe davon aus, dass alle Absolventen dieser Seminare einerseits durch die eigene Arbeit zur Schlussfolgerung gelangt sind, dass die Geister real sind; und dass sie anderseits auch verstanden haben, dass durch Kenntnis und Anwendung dieses Prinzips erfolgreiche schamanische Divinations- und Heilarbeiten möglich werden.
Diese Arbeit dient nicht dazu, andere von der Existenz von Geistern oder von deren Eigenschaften zu überzeugen. Praktischer Schamanismus ist keine Sache der Argumentation oder des Glaubens, sondern Erfahrungswissen aus erster Hand. Anderseits mag sich auch manch indigene SchamanIn über diese Zeilen freuen und darüber, dass Menschen aus dem Westen endlich darauf gekommen sind, wie wertvoll ihre eigenen Erfahrungen und die ihrer Vorfahren sind.
Erster Grundsatz:
Geister sind real.
Dieser erste Grundsatz ist die unverzichtbare Basis der folgenden neun. Er formuliert einfach die klassische Erfahrung seriöser schamanisch Praktizierender, dass es Geister gibt. Dieses Wissen ist entscheidend für erfolgreiche schamanische Arbeit.
Zweiter Grundsatz:
Geister erzeugen Träume. Traumerzeugende Geister sind u.a. die Seele des Individuums sowie einige anderen Geister, die sich mit einer Person verschmolzen haben oder die eine Anhaftung zu dieser Person aufrechterhalten.
Dieses zweite Prinzip ist ebenso wichtig. Es bedeutet, dass Geister Träume generieren. „Geister“ heißt hier: Die Seele des Menschen und die aller anderen Geister, die mit einer Person verschmolzen sind oder eine Verbindung zu dieser Person haben. Mit anderen Worten: Es gibt eine Vielzahl von Geistern, die Träume erzeugen, nicht nur eine singuläre menschliche Seele (oder „Psyche“, wie man „Seele“ in der säkularisierten modernen westlichen Welt häufig zu nennen pflegt).
Das Konzept einer singulären oder selbstständigen Seele, wie es hier verwendet wird, ist das des Core-Schamanismus. Obwohl es kulturell unterschiedliche Seelen-Konzepte (einzelne, mehrfache Seelen) gibt, ist es das Ziel des Core-Schamanismus, universell gültige oder nahezu universell gültige Prinzipien, wie sie weltweit in indigenen schamanischen Kulturen vorkommen, herauszuarbeiten.
Es sind sehr unterschiedliche Geister, die Träume produzieren. Dazu gehört nicht nur die eigene Seele, sondern auch solche Geister, die den Menschen besetzen oder mit ihm verschmolzen sind oder auf andere Weise eine enge Verbindung zu einem Menschen aufrecht halten. Sie können kurzfristigen oder lange anhaltenden Einfluss auf das Traumleben des Menschen haben, und zwar abhängig von der Dauer ihrer Präsenz.
Diese Theorie behauptet nicht, dass alle Träume von Geistern stammen.
Dritter Grundsatz:
Diese Geister besitzen eine große Bandbreite an Charakteristika. Es existieren verschiedene Arten von traumerzeugenden Geistern, die unterschiedliche Arten und Stärken von Kraft haben können.
Zum Beispiel befassen sich traumproduzierende Geister, wie die Seele des Menschen oder seine spirituellen Verbündeten, häufig mit der Gesundheit des Menschen und seinem Wohlergehen. Wer sich über seine Gesundheit Sorgen macht, sollte sich also darüber im Klaren sein, dass sie nicht allein mit solchen Gedanken befasst ist, sondern auch Verbündete, etwa die Krafttiere, damit befasst sind genauso wie die eigene Seele. Es kann durchaus sein, dass alle diese Geister Träume in die Welt setzen, die den Menschen warnen, auf Probleme hinweisen und ihm Ratschläge geben – das alles kann in Bildern, Metaphern, Gleichnissen, aber auch in wörtlichen Botschaften geschehen.
Dieses dritte Prinzip impliziert auch die Notwendigkeit für schamanisch Praktizierende, die Vielfalt der Geister und deren Eigenschaften zu kennen, die in das Traumgeschehen eingreifen können. Besonders deshalb ist Wissen über die zahlreichen Geister der Mittleren Welt unerlässlich – aber selbstredend auch über die der Oberen und Unteren Welten.
Vierter Grundsatz:
Traumproduzierende Geister können helfende Geister sein, mitunter schützende Geister, aber auch nicht-helfende Geister, z. B. leidende oder andere eindringende Wesen.
Die hier „leidende Wesen“ genannten Geister sind typischerweise unglückliche Seelen verstorbener Menschen, plötzlich oder gewaltsam ums Leben gekommen, üblicherweise verwirrt und nicht wissend, dass sie gestorben sind. Deshalb wandern sie hilflos in der Mittleren Welt umher. Von Zeit zu Zeit können sie ihre Illusion, noch am Leben zu sein, dadurch verstärken, dass sie eine lebende Person besetzen, sich an diese anhaften oder sich in ihrer Nähe aufhalten.
Unter diesen Umständen ist es möglich, dass sich die Traumerinnerungen dieser Verstorbenen mit den Träumen Lebender mischen. Das kann dazu führen, dass lebende Personen irrtümlich annehmen, sich an vergangene Leben erinnern zu können. Diese Träume, wie auch die Leben der leidenden Wesen, enden sehr oft plötzlich oder gewaltsam-traumatisch. Für schamanisch Praktizierende ist es außerordentlich wichtig, sich dieser häufigen Verwechslung bewusst zu sein und ihren KlientInnen zu helfen, solche Träume zu identifizieren. Um hier mit nachhaltigem Erfolg arbeiten zu können, müssen sich die Praktizierenden über Besessenheit als Krankheit vollständig im Klaren sein und auch Erfahrung mit deren Behandlung haben.
Eindringlinge sind dadurch, dass sie in bestimmte Stellen des menschlichen Körpers eindringen, die Ursache für lokale Schmerzen oder Krankheiten. Die Beziehung dieser loka-len Eindringlinge zu den Träumen ihrer Opfer wird derzeit noch untersucht.
Fünfter Grundsatz:
„Schlechte” Träume oder Alpträume können wohlwollende Warnungen helfender Geister sein, können aber auch von nicht-helfenden Geistern erzeugt werden.
Dieser Grundsatz ergibt sich aus dem vorhergehenden. Er besagt, dass Angstträume oder Träume, in denen man verletzt oder erschreckt wird, grundsätzlich hilfreiche Warnungen sein können, wenn sie von der eigenen Seele oder den helfenden Geistern hervorgerufen werden. Dennoch kann es auch so sein, dass Alpträume keine Warnungen, sondern von nicht-helfenden Geistern stammen, deren Träume sich mit Träumen und Erinnerungen der betreffenden Person mischen.
Ein Beispiel: Ein leidendes Wesen hat als letzte Erinnerung an sein Dasein einen gewalttätigen Angriff auf seine Person, aber keine Erinnerung daran, dass dieser Angriff mit dem Tod endete. Wenn dieses leidende Wesen eine lebende Person besetzt oder einfach sich häufig in ihrer Gegenwart aufhält, dann können solche prägenden Erinnerungen Alpträume hervorrufen, die keine nützlichen Warnungen enthalten. Das mag schamanisch Praktizierende jedoch darauf hinweisen, dass in diesem Falle eine Depossession anzuwenden ist.
Alpträume können selbstredend auch durch so einfache Dinge wie Verdauungsstörungen oder andere seelisch-geistige oder körperliche Beschwerden ausgelöst werden. Das heißt nicht, dass solche Träume keine spirituelle Komponente besitzen. Die Seele oder schützende Geister können ja Träume als Vehikel zur Warnung benützen, dass irgendetwas die Gesundheit des Menschen bedroht und Aufmerksamkeit erfordert.
Sechster Grundsatz:
Personen mit beträchtlicher spiritueller Kraft sind tendenziell resistenter gegen den Empfang von Träumen, die von nicht-helfenden Geistern erzeugt werden.
Ein Mensch, der von spiritueller Kraft erfüllt ist, ist gegenüber spirituellen Eindringlingen und unerwünschter Besessenheit geschützt. Spirituelle Kraft wirkt wie ein schützendes Kraftfeld. Eindringlinge und zu Besetzungen bereite Geister werden schon im Vorfeld von diesem Kraftfeld abgehalten. Ihr negativer Einfluss prallt an solchen Menschen ab – es kommt von vorneherein nicht zu Träumen. Daher ist es verständlich, dass solche Menschen von unerwünschten Träumen leidender Wesen nicht oder nur selten heimgesucht werden. Umgekehrt kann die Tatsache, dass derartige Träumern auftreten, darauf hinweisen, dass die Person ihre spirituelle Kraft erneuern sollte.
Siebter Grundsatz:
Persönliche helfende Geister können sich in Form von „Großen Träumen“ manifesteren, um wichtige spirituelle Kraft und Informationen zu übermitteln.
Ein „Großer Traum“ ist typischerweise die Manifestation eines wichtigen Schutz- oder Helfergeistes, der schützende spirituelle Kraft bringt. Man unterscheidet üblicherweise zwei Arten.
- Einen Traum, der sich oft über längere Zeit (ostinat) wiederholt.
- Eine Vision, das ist eine überwältigende Erfahrung, die meistens im Rahmen eines Wachtraumes passiert.
Eine Vision kann wichtige Informationen zur Lebensgestaltung oder -änderung enthalten. Es kann jedoch auch nach einiger Zeit, nach einem Zwischenspiel, ein Traum folgen, der das Ganze wiederholt. Große Träume verlangen unsere volle Aufmerksamkeit – sowohl schamanisch als auch im täglichen Leben.
Unglücklicherweise wird der Ausdruck „Traum“ in den Arbeiten vieler Ethnologen sehr unscharf verwendet; oft fehlt die genaue Hinterfragung durch die Forschenden, wenn eine Angehörige einer indigenen Kultur über Träume spricht. Oft versteht man den Zusammenhang nicht oder es ist überhaupt unklar, was in einer bestimmten Kultur unter „Traum“ verstanden wird. Oft wird der Terminus „Traum“ für verschiedene Erfahrungen verwendet, etwa Träume im Schlaf, Tagträume, schamanische Reisen oder Visionen.
Achter Grundsatz:
Die oben angeführten Grundsätze betreffen alle Arten von Träumen, z. B. Träume, die während des Schlafes erscheinen, Wach- und Tagträume und Visionen.
Dieser Grundsatz beruht auf der Definition des Begriffes „Traum“. Ihr wurde der Artikel in „Webster’s New Universal Unabridged Dictionary“ zugrunde gelegt. Zudem beruht er auf dem üblichen Gebrauch des Wortes. Die Definition lautet: „Eine Abfolge von Bildern, die im Schlaf geschieht, oder wenn jemand wach ist. Wachträume können unfreiwillig oder willentlich (gesteuert) sein. Ist ein Wachtraum ungewöhnlich lebendig, nennt man ihn Vision.“ Als angewandtes Beispiel können im Rahmen dieser Definition schamanische Reisen als „disziplinierte, willentlich herbeigeführte Träume, die nicht in der Alltäglichen Wirklichkeit geführt werden“ angesehen werden. Sie sind also nicht als willentliche Imagination zu verstehen.
Neunter Grundsatz:
Um die Bedeutung ihrer Träume zu verstehen, können Menschen sich auf schamanische Reisen zu ihren wichtigsten spirituellen Verbündeten für die Divination begeben, um Informationen zu erhalten.
und
Zehnter Grundsatz:
Diese Reisen sollten eine ausgiebige Studie von Metaphern beinhalten, insbesondere insofern als diese Metaphern für die Bedeutung der Kommunikation mit den Geistern und daher für die Bedeutung der Träume relevant sind.
Der neunte und zehnte Grundsatz sind miteinander verknüpft. Im Schamanismus kann man absichtsvolle Träume dazu verwenden, die Bedeutung unabsichtlicher Träume zu erschließen. Zwei hierfür üblicherweise verwendete Techniken sind das Rückholen eines Traumes und die schamanische Reise. Beide werden von den Träumenden selbst angewandt, denn niemand ist besser dazu geeignet als die Träumenden selbst, die Bedeutung ihrer Träume herauszufinden. In beiden Fällen kann es zu wörtlicher oder metaphorischer Kommunikation kommen. Außer bei schamanischen Initiationen oder in der Ausbildung wird darüber nicht gesprochen, denn es handelt sich um Kommunikation mit den Geistern. Einerseits ist das meiste davon ohnedies nicht in Worte zu fassen, anderseits ist es heilig und persönlich.
Inhalte schamanische Reisen und ihre Metaphern sind perfekt auf die schamanisch reisende Person zugeschnitten, die sie betreffen, sodass nur er oder sie sie verstehen kann. Man sollte nicht davon ausgehen, dass sie auch für andere Personen bedeutungsvoll sein können, auch nicht für Klienten oder Klientinnen. Einerseits sind sie vielschichtig; anderseits beruhen sie auf der der genauen und sehr intimen Kenntnis der Geister über die Reisenden. Für jemand anderen hätten sie daher nicht dieselbe Bedeutung. Es ist die persönliche Verantwortung der schamanisch Reisenden herauszufinden, was die gezeigten Metaphern bedeuten, und das ohne Hilfe von außen. Nur sie sind in der Lage, Metaphern und Gleichnisse, die ihnen gezeigt wurden, zu entschlüsseln.
Wenn jemand nicht zu einer schamanischen Reise imstande oder unfähig ist, für sich selbst einen Traum zurückzurufen, dann mag es hilfreich sein, sich an eine/n qualifizierten schamanisch Praktizierende/n zu wenden. Wer um diese Art Hilfe gebeten werden, sollten sich an die ethischen Grundsätze des Core-Schamanismus halten, etwa nur auf Anfrage tätig zu werden. Wer sich nicht daran hält, riskiert, anderen deren spirituelle Freiheit wegzunehmen.
Traumdeutung
Traumdeutung war von jeher für den Menschen von großer Bedeutung. Auf allen bewohnten Kontinenten entwickelten und erprobten Schamanen durch Jahrtausende Methoden, um Träume zu verstehen. Der Schlüssel hierzu waren ihre spirituellen Werkzeuge für die Arbeit mit Geistern. Sowohl schamanische Techniken als auch „Verkehr mit Geistern“ wurden von der Kirche verboten und folgerichtig im Zeitalter der Aufklärung als Spintisiererei abgetan.
Das letzte Jahrhundert war geprägt von vielfachen Anstrengungen, Träume zu erklären und Theorien darüber zu entwickeln; aber gerade die Aufklärung verharrte in ihrem Widerstand gegen schamanische Aktivitäten, geschweige denn, dass sie die alte schamanische Erfahrung von der Wirklichkeit der Geister anerkannt oder in Erwägung gezogen hätte, rein praktisch mit Geistern zu arbeiten. Die Renaissance des Schamanismus in der westlichen Welt in den letzten Jahrzehnten lässt jedoch annehmen, dass dieser ethno-zentrische Standpunkt in Zukunft nicht zu halten sein wird.
Dieser kurze Artikel möge auch ein Anstoß dafür sein, die Erforschung des ungeheuren Reichtums von indigenem Wissen weiterzuführen, egal, ob es bereits in Form von Publikationen vorliegt oder noch wissenschaftlich – aber respektvoll – erschlossen werden muss. Eine gewaltige Herausforderung besteht dabei darin, einen Überblick über schamanisches Wissen zu erlangen, das sich in hunderten weitverstreuten Kulturen erhalten hat und daher nicht zugänglich ist. Wahrscheinlich eine noch größere Herausforderung für Menschen der westlichen Welt mag es sein, die Türen ins schamanische Universum aufzustoßen und selbst herauszufinden, dass es Geister gibt und dass sie mit Träumen zu tun haben.
Dr. phil. Michael Harner war Anthropologe. Er hat in der westlichen Welt die Renaissance des Schamanismus und des schamanischen Reisens mit eingeleitet. Er war Präsident und Gründer der Foundation for Shamanic Studies. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen ist „Der Weg des Schamanen“ am bekanntesten.