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Bei Schmerzen: Arzt oder Schamane?

Schmerz gehört zum Leben; er ist ein nicht abschüttelbarer Begleiter zwischen Wiege und Bahre. Noch nicht einmal geboren muss er sein, ein Mensch, um Schmerzen zu haben. Dass der Embryo im Mutterleib – ab der 23. Schwangerschaftswoche – Schmerz empfinden kann, ist medizinisch gesichert.

Ab einem gewissen Alter lernt man, dass Schmerzen wichtig sind, sie können lebensrettende Warnsignale sein. Oder sie wirken als Verhaltenslehrmeister: Kleinkinder sind zu höchst raffinierten Strategien zur Schmerzvermeidung imstande. Damit können sie ihrer Umgebung kräftig auf die Nerven fallen.

Ein neuer Blickwinkel auf Schmerzen

Ein anderer Blickwinkel kann die Sache ändern. So ist von Gregor von Nazianz (um 330-390 unserer Zeitrechnung) eine Art Loblied auf den Schmerz überliefert: „Denn zuweilen ist dem Menschen Schmerz dienlicher als Gesundheit, Anspannung nützlicher als Entspannung, Zurechtweisung förderlicher als Nachsicht. So wollen wir in guten Tagen nicht übermütig werden und im Unglück nicht verzagen und zusammenbrechen.“

Abseits vom Moralischen ist dennoch Wahrheit in dieser These – so viel, dass die moderne Wissenschaft diese Betrachtungsweise durchaus ernst nimmt. Auf den deutschen Ethnomediziner Norbert Kohnen geht der Begriff der Schmerzlichkeit zurück. Das bedeutet: Der Mensch nimmt Schmerz nicht nur körperlich wahr, sondern auch emotional. Schmerz wird also nicht nur auch seelisch erlebt, sondern unsere Psyche „bewertet“ diesen gleichsam. So steht Schmerz im Kontext des sozialen Umfeldes, der jeweiligen Kultur.

Es gibt starke kulturelle Unterschiede in der Wahrnehmung von Schmerz. Eine bekannte Untersuchung belegt, dass etwa Menschen aus Spanien Schmerzen häufiger und emotionaler erleben als Menschen aus Amerika und Polen. Folgerichtig glauben Spanier:innen daran, dass das emotionale Ausleben von Schmerz das beste Mittel dagegen sei, während Polen und Polinnen gegenteiliger Ansicht sind: Der Schmerz hat beherrscht zu werden. Die persönliche Haltung und der Grad der Aufmerksamkeit zum Schmerz scheinen die Wahrnehmung von der Stärke des Schmerzes zu beeinflussen. Europäer klagen wenig über postoperative Schmerzen, Latinos und Afroamerikaner dagegen sehr. Sie verwenden zudem mehr Hilfstechniken dagegen, wie z. B. das Beten. Asiaten, Angehörige der nordamerikanischen First Nations und andere Völker gelten als weniger schmerzempfindlich. Oft gilt im Gegenteil das Ertragen von Schmerzen als ehrenvoll und fördert das Ansehen der jungen Männer.

Was ist Schmerz überhaupt?

Die Medizin sieht ihn als körperliche Empfindung: „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder drohender Gewebeschädigung einhergeht oder von betroffenen Personen so beschrieben wird, als wäre eine solche Gewebeschädigung die Ursache“ (Definition der Internationalen Gesellschaft zur Erforschung des Schmerzes).

Das wurde inzwischen wesentlich erweitert – eben wegen der emotionalen Komponente und der Tatsache, dass es Schmerz auch ohne Gewebeschädigung geben kann, zum Beispiel den neuropathischen infolge einer diabetischen Neuropathie. Die Nervenenden („Nozirezeptoren“) registrieren Druck, Schnitt, Quetschung, Hitze, Kälte und leiten die Reize an das Gehirn weiter. Dieses löst seinerseits Handlungen aus, um die Schmerzursache nach Möglichkeit zu beseitigen, etwa durch Abwehr- oder Fluchtreaktionen.

Langfristig führt das Erleben von Schmerz zu Veränderungen im Nervensystem; die Erinnerung wird gespeichert, man spricht vom „Schmerzgedächtnis“. So können etwa Sinnesreize wie Geräusche oder Gerüche, die mit Schmerzerfahrungen einhergingen, neuerlich Schmerzempfindungen auslösen.

Was tun gegen Schmerzen? Sowohl körpereigene Substanzen, wie die Endorphine, als auch von außen zugeführte, wie Morphin, sind imstande, die Schmerzwahrnehmung zu verändern, den Schmerz zu verringern. Zusätzlich zur medikamentösen Schmerztherapie gibt es noch die Nervenstimulation (Akupunktur) sowie Physio- und Psychotherapien.

Auch die Geisterwelt spielt mit

Berücksichtigt man den Faktor Emotion, dann leuchtet ein, dass man auch versuchen kann, Schmerzen die Schmerzlichkeit zu nehmen. Das geschieht auch bei uns, aber mit besonderer Betonung in nativen Kulturen. Denn in diesen hat Schmerz eine zusätzliche Bedeutung – er zerstört, genauso wie Krankheit, das gesellschaftliche und familiäre Gleichgewicht. Eine rein naturwissenschaftliche Krankheitsbehandlung reicht da nicht, denn die Störung der spirituellen Welt, die der Geister, Götter und Ahnen, wird dadurch nicht beseitigt.

Das ist der Punkt, an dem Schamanen oder Schamaninnen ins Geschehen treten. Naturvölker auf der ganzen Welt glauben, dass Krankheit und Schmerz von mysteriösen dämonischen Kräften oder von Verstorbenen verursacht werden. Dieselben Kräfte werden jedoch auch als Retter vor körperlichen und psychischen Problemen angesehen. Daneben können auch die Missachtung göttlicher Gesetze oder das Brechen von Tabus Gründe für das Entstehen von Krankheiten und Schmerzen sein. Mittels Gebete und Opfergaben wird versucht, dem Problem beizukommen.

In einer vergleichenden Fragebogen-Studie der Universität Salzburg wurde nun die Schmerzwahrnehmung in Ladakh und in Österreich untersucht. Ladakhis suchen bei Schmerzen üblicherweise zuerst einen Schamanen, eine Schamanin oder einen Amchi (tibetisch-buddhistischen) Heiler auf, aus dem einfachen Grund, dass Ärzte kaum verfügbar sind. In Österreich (die Untersuchungen wurden an Patienten und Patientinnen der Interdisziplinären Schmerzambulanz im Landeskrankenhaus Klagenfurt vorgenommen) ist der Arzt oder die Ärztin primärer Ansprechpartner.

Das Ergebnis der Studie im Originalzitat: „Sowohl die Schamanen als auch die westlichen Ärzte beherrschen ihre Behandlungsmethoden und sind imstande, ihren Patienten zu helfen. Schamanismus wie Schulmedizin führen zum gewünschten Ziel, eine Vergleichbarkeit ist jedoch aufgrund der verschiedenen Ansätze sehr schwierig. Die Schamanen beherrschen es in perfekter Weise, ihren Patienten die Schmerzlichkeit ihrer Krankheiten zu nehmen, während die westlichen Schulmediziner schnell die Schmerzhaftigkeit mithilfe von Medikamenten behandeln. Es liegt die Vermutung nahe, dass ein Großteil des Heilungserfolges der Aktivierung der Selbstheilungskräfte der Patienten zuzuschreiben ist. Wichtig ist allerdings für jeden Patienten, sich mit seinen Schmerzen bzw. seiner Krankheit auseinander zu setzen. Da dies jedoch in der westlichen Schulmedizin oft zu kurz kommt, scheint eine Kombination von komplementären Methoden, wie dem Schamanismus, mit der Schulmedizin in der Schmerztherapie eine gute Lösung zu sein.“

Der Ort, an dem die Seele sitzt, ist das Herz

Einige Details aus den ausführlichen Befragungen:

Ort der Schmerzen:
Eine Hypothese der Studie lautete, dass Menschen in Österreich aufgrund von Zivilisationserkrankungen und Atherosklerose im Alter vermehrt Herzprobleme haben sollten. Als bemerkenswert ergab sich jedoch, dass bei den Ladakhis Herzschmerzen vermehrt auftraten. Mögliche Erklärung: Bestimmte Schmerzen betrachten sie als „in ihrem Herzen sitzend“, sehen also das Herz als den Sitz der Seele an. Die so erlebten Schmerzen könnten von psychischen Problemen oder im Fall dieser Kultur auch durch Verwünschungen, durch Flüche, hervorgerufen werden. Menschen aus Ladakh empfinden ihre Schmerzen in der Regel als stärker als Menschen aus Österreich. Das Ergebnis ist (befragt wurden 32 Personen aus 32 Ladakh und 42 aus Österreich) statistisch signifikant. Presch: „Eine Gewebsschädigung ist weder notwendig noch eine Bedingung für das Empfinden von Schmerz […] körperliche Krankheiten können nicht isoliert von ihren psychosozialen Konsequenzen betrachtet werden.“

Frauen/Männer:
Frauen aus Ladakh spüren ihre Schmerzen stärker als Männer; ebenso die Frauen in Österreich (die Patienten hatten die Schmerzstärke im Rahmen des Fragebogens zu bewerten). Mögliche Ursache: Frauen können besser differenzieren und reagieren schneller und intensiver.

Alter:
In Ladakh erleben ältere Menschen Schmerzen stärker als junge. Bei den untersuchten Österreichern gab es dazu jedoch kein aussagekräftiges Ergebnis.

Dauer:
In Ladakh sucht man mit Schmerzen schneller schamanische Hilfe als in Österreich ärztliche Hilfe. In Ladakh sind es die Frauen, die schnell Hilfe haben wollen – in der Regel innerhalb von drei Tagen. In Österreich wartet man oft drei Monate, bevor man wegen Schmerzen eine Praxis aufsucht.

Musik:
In Ladakh (wie auch in anderen Kulturen, etwa im Orient) spielt bei der Schmerzbewältigung Musik eine große Rolle, in Österreich dagegen kaum.

Medikamente:
Sie haben in beiden Kulturen ungefähr den gleichen Stellenwert. In Ladakh werden darunter die Kräutermedizinen in Kugelform verstanden, die meist von den Amchi verabreicht werden. In Österreich sind es Tabletten, Pillen und Tropfen.

Behandlung:
Die Behandlung durch die ladakhische Schamaninnen (zumeist Frauen) bestand in der Regel in der Extraktion, dem Heraussagen von Eindringlingen, die als Auslöser von Krankheit und Schmerzen gesehen werden. Es fiel auf. dass die Schamaninnen meist nicht nachfragten, wo der Ort des Schmerzes lag, sondern von sich aus fanden. Die Schamaninnen saugten mit dem Mund oder durch ein Metallröhrchen und spuckten die Eindringlinge in Form von Flüssigkeit (Wasser, schwarzer Schleim) aus, aber auch als kleine Gegenstände in Form von Knochen oder Nägeln. Manchmal zeigten sie den Kranken vor dem Entsorgen das in der Hand liegende Objekt. Werkzeuge zur Extraktion waren üblich: Phurpas (Ritualdolche), Messer, Vajra-Szepter, Tücher etc.

Weiterbehandlung:
Wie österreichische Mediziner:innen ihre Patienten an Fachärzte weiterreichten, so empfahlen ladakhische Schamanen und Schamaninnen häufig die Konsultation eines Amchi oder, in seltenen Fällen, auch die eines westlichen Arztes oder Ärztin. Die Schamanen und Schmananinnen haben keine Furcht vor Rückfällen. Es herrscht die Überzeugung vor, in einer Sitzung sei alles Notwendige geschehen, um Schmerzen zu nehmen und Krankheit zu heilen. Den Klienten und Klientinnen steht es indes frei, jederzeit wiederzukommen.

 

Mag.a Michaela Presch, Fachbereich Organismische Biologie der Universität Salzburg.

Die Studie wurde unterstützt vom Büro für internationale Beziehungen der Universität Salzburg.