In Memoriam

Dr. Michael Harner

Der Weg eines Schamanen - Über Michael Harner (1929-2018)

„Eines Abends im Jahr 1982 trat ich schließlich alleine an den Eingang der Höhle heran. In Stille bat ich die Geister um ihr Mitgefühl und darum, mir größere Kraft für meine Heilarbeit zu verleihen.“

Michael Harner, Höhle und Kosmos, 2013

Es gibt außergewöhnliche Menschen, die sowohl in der Lage als auch bereit dazu sind, sich weit voraus auf unbekanntes Gebiet zu begeben und so den Weg für andere zu bereiten. Michael Harner, 1929 in Washington, D.C., geboren, war ein solcher Mensch. Als akademisch ausgebildeter Anthropologe mit einem Doktorat von der Universität von Kalifornien, Berkeley, forschte er bei den Conibo im östlichen Peru und erlebte dort seine Initiation in den Schamanismus. Der Schritt vom wissenschaftlichen Beobachter zum schamanisch Praktizierenden glich der Überquerung des Rubikon, der die Wissenschaften von dem trennt, was unter Wissenschaftlern als Aberglaube angesehen wird. Michael Harner fand einen Weg, gleichzeitig auf beiden Ufern dieses Flusses zu wandeln.

Er erkannte, dass indigenes schamanisches Wissen im Begriff war, sehr rasch zu verschwinden, und dass die unterschiedlichen schamanischen Kulturen auf der Welt über viele gemeinsame Elemente verfügen. Er lernte bei verschiedenen schamanischen Gemeinschaften am Oberen Amazonas und vertiefte sich in die weltweite Erforschung des Schamanismus. So konnte er dessen quer über die Kulturen hinweg gültige, grundlegende Prinzipien und Praktiken herausarbeiten und dafür den Begriff des „Core-Schamanismus“ prägen. Der Core-Schamanismus ist kein Glaubenssystem, sondern beruht auf der unmittelbaren Erfahrung, dass Geister real sind. Durch den Core-Schamanismus hat Michael Harner den Erfahrungen mit Geistern und der Nicht-alltäglichen Wirklichkeit eine Sprache verliehen, die es möglich machte, solche Erfahrungen zu wiederholen und zu studieren und so schamanische Methodologie zu lehren.

Indem er den Core-Schamanismus etablierte, ermöglichte er ein Wiederaufleben schamanischen Wissens und schamanischer Heilpraktiken im Westen. Mit seinem erstmals 1980 in englischer Sprache erschienenen Buch „Der Weg des Schamanen“ schuf er eine der wesentlichen Quellen dafür. Obwohl er ein brillanter Autor mit einem Stil von großer Klarheit war, verzichtete er dann über mehr als drei  Jahrzehnte darauf,  weitere Bücher zu veröffentlichen, um so der von ihm begonnenen, neuen Tradition mündlicher Weitergabe schamanischen Wissens die Gelegenheit zu geben, zu wachsen und sich zu entwickeln. Gerade in Kulturen, die stark auf dem geschriebenen Wort – religiöser Doktrinen oder wissenschaftlicher Weltsicht – beruhen, war dies ein mutiger und visionärer Zugang, der aber gut funktionierte und zu der Renaissance des Schamanismus im Westen führte, die wir heute beobachten können. Er bediente sich dabei des Seminars als einem in westlichen Kulturen passenden Format für das Lernen und ermöglichte so den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Seminare die Erfahrung der Kraft einer Gruppe, die sich schamanischer Heilarbeit widmet. Im Kern ist dies die Erfahrung eines schamanischen „Stammes“, der aus Menschen ohne kulturelle Verwurzelung in schamanischen Traditionen zusammengesetzt ist. Dieser Aspekt erhielt besondere Bedeutung für die Verbreitung des Core-Schamanismus in Europa, das seine Verbindungen zum Schamanismus vor langer Zeit gekappt hatte. Michael Harners Begegnung mit Paul Uccusic in Österreich beim Forum Alpbach im Jahr 1982 führte nicht nur zu einer lebenslangen Freundschaft dieser beiden Männer, sondern auch zur Etablierung der Foundation for Shamanic Studies in Europa durch die Arbeit von Paul und Roswitha Uccusic.

Gemeinsam mit seiner Frau, der Psychologin Sandra Harner, gründete er 1979 das Center for Shamanic Studies und schuf 1985 die Foundation for Shamanic Studies als organisatorischen Rahmen für diese neue, im Wesentlichen mündliche Tradition. Nachdem er jahrzehntelang als akademischer Lehrer an Universitäten wie der Columbia University, der Yale University und der Graduate Faculty der New School in New York gewirkt hatte, legte Michael Harner im Jahr 1987 seine Professur nieder, um sich zur Gänze auf seine Arbeit für die Foundation konzentrieren zu können. Er legt sehr viel Wert darauf, dass seine Arbeit mit indigenen Schamanen und Schamaninnen keine Einbahnstraße der Ausbeutung wurde, sondern vielmehr ein gegenseitiger Austausch von Wissen auf der Grundlage von Respekt und Vertrauen. Viele schamanische Kulturen hatten über Jahrhunderte hinweg Verfolgung durch Religionen und totalitäre Regime erlitten. Die Foundation widmet sich – neben der Abhaltung von Workshops zu verschiedenen core-schamanischen Methoden – auch der Erhaltung nativer schamanischer Kulturen durch die Unterstützung lokaler Schamanen und Schamaninnen.

Michael Harner war hochrespektiert, wurde von westlichen Wissenschaftlern ebenso konsultiert wie von indigenen Schamanen und Schamaninnen, zu denen er kollegiale Beziehungen unterhielt. Er wurde zu der führenden Autorität im Westen zum Thema Schamanismus. Michael Harner war ein Lehrer, der mit Autorität sprach, aber stets seinen Studentinnen und Studenten die Freiheit ließ, ihren eigenen Weg zu gehen. Er vereinte wissenschaftliche Präzision und hohe ethische Ansprüche mit spiritueller Tiefgründigkeit und einem legendären Humor.

In den letzten Jahren konnte Michael Harner einige Kreise in seiner Arbeit abrunden: So veröffentlichte er 2013 sein Buch „Höhle und Kosmos – Schamanische Begegnungen mit der verborgenen Wirklichkeit“, das einen umfassenden Bericht von der Realität der Geister beinhaltet, der aus seiner lebenslangen persönlichen Erfahrung ebenso schöpft wie aus Berichten von den Seminaren der FSS. Im gleichen Jahr übergab er die Leitung der Foundation for Shamanic Studies an Susan Mokelke.

Die Botschaft des Core-Schamanismus ist angekommen: Diese junge schamanische Tradition hat sich in den vergangenen Jahrzehnten signifikant über Kontinente, Sprachräume und Zivilisationen hinweg verbreitet. Gleichzeitig konnten native schamanische Kulturen erhalten werden und erfahren heute wieder entsprechende Würdigung. Michael Harner hat mit Demut seine Initiation akzeptiert, sich kraftvoll und ausdauernd seinem Lebenswerk gewidmet und seine Mission erfüllt. Am 3. Februar 2018 ist Michael Harner, wenige Wochen vor seinem 89. Geburtstag, in der Nähe seines Wohnortes in Mill Valley, in Kalifornien, gestorben.

„Sollte ich morgen sterben, so tue ich dies in dem Bewusstsein, dass ich mehr erreicht habe, als ich je gehofft hätte. Ich hatte in dieser Hinsicht großes Glück. Ich habe diesen Weg niemals vorhergesehen und ich habe nie erwartet, dass so viele Menschen bereit wären, ihm zu folgen. Nun gibt es so zahlreiche Menschen, die darin gut geübt und darauf vorbereitet sind, mit den Geistern zu arbeiten und von ihnen zu lernen. Mein Vermächtnis sind, mehr als alles andere, meine Schülerinnen und Schüler, denn sie werden weiter arbeiten, und manche werden weiter gehen, als ich je gegangen bin.“

Michael Harner aus Anlass seines 80. Geburtstages im Jahr 2009

Artikel von Michael Harner zum Schamanismus

Veröffentlichte Werke von Michael Harner sind auch in unseren Literaturempfehlungen zu finden.

Monographien von Michael Harner

  • „The Jivaro: People of the Sacred Waterfalls” (1972)
  • „Hallucinogens and Shamanism” (1973);
  • „The Way of the Shaman” (1980), deutsch „Der Weg des Schamanen” (1981)
  • „Cave and Cosmos: Shamanic Encounters with Another Reality“ (2013), deutsch „Die Wirklichkeit des Schamanen: Ein Wegweiser in verborgene Welten und Bewusstseinsräume“ (2013)